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Ruf der Wildnis

Am Ende jedes Schuljahres schnüren eine Handvoll Männer und ein sauberes Dutzend Kinder ihre Ranzen und begeben sich auf das alljährliche Wanderwochenende. Väter und Lendenfrüchtchen fiebern diesem Ereignis gleichermaßen das ganze Jahr entgegen. Warum?

Die Mythen ranken sich um dieses Wochenende, doch ähnlich wie bei Junggesellen-Verabschiedungen in Las Vegas wird ein Mantel des Schweigens darüber geworfen, ein Gentlemenʼs Agreement mit kindlicher Mitwisserschaft sozusagen.

 

Nach reichlicher Überlegung breche ich nun dieses Tabu und berichte erstmals darüber. Ich bin mir nicht sicher, ob der Pate das gutheißen wird, aber ich habe vorsorglich einige Dokumente bei einem Anwalt meines Vertrauens deponiert.

Sollte mir etwas zustoßen, wird er damit unverzüglich in die Öffentlichkeit treten.

 

Was die Großeltern glauben

Noch ehe im Tale die Hähne ihre Schnäbel zum Krähen öffnen, stiefelt eine muntere Schar hopsend und jauchzend dem Gipfelkreuz entgegen. Die frohlockende Partie trällert beim Aufstieg Weisen von lustigen Müllern, die sich der Wanderei verschrieben haben.

Die ersten Sonnenstrahlen spiegeln sich in dem vom Morgentau benetzten Schuhwerk, gigantische Ameisenstaaten werden von den wissensdurstigen Kindlein beäugt, vermessen und eifrig in die mitgebrachten Skizzenbücher übertragen.

Auch ein Exkurs in die Mykologie ist ein steter Bestandteil einer jeden Wanderung. Der/die GewinnerIn des anschließenden Pilz-Quiz bekommt ein Stück Schokolade mit hohem Kakaoanteil. Das ist die Motivation für die anderen, sich das nächste Jahr noch besser vorzubereiten.

 

Am Gipfel angekommen, stärken wir uns mit den mitgebrachten Köstlichkeiten der regionalen Obst- und Gemüseläden und spülen den ausreichend gekauten Speisebrei mit Wasser aus dem rauschenden Gebirgsbächlein hinunter.

Nach kurzem Innehalten und Aufsaugen des Panoramas geht es – hurtig mit der Sonne Lauf – zurück zur Hütte. Das gemeinsame Kräuter pflücken für die Vesper darf natürlich auch nicht fehlen. Um spätestens 20:00 Uhr liegen die Kleinen im Bett, die Herren stopfen sich entweder eine Pfeife auf der Veranda, spielen Karten oder ziehen sich mit einem guten Buch zurück.

 

Was die Frauen glauben

Die Ignoranz des Geschwindigkeitslimits gefährdet bereits nach wenigen Fahrminuten die Existenz ihrer Lieben. Die errechnete Ankunftszeit des Navigationssystems wird zerschmettert, das Gumball 3000 ist eine Bobby-Car-Bummelfahrt dagegen.

Sofort nach dem Abstellen des Motors zischen die ersten Bierdosen und ein vom Stammesältesten mühsam aufgesparter Pups eröffnet das Wochenende standesgemäß.

Die Buben bedienen sich am heimlich mitgeschmuggelten John-Rambo-Messerset, spitzen sofort Pfeile und Speere, um es den verhassten, eingeborenen Feinden aus Mönichkirchen so richtig heimzuzahlen.

 

Die Mädchen ziehen sich in ihre Zimmer zurück, schminken sich gegenseitig und posten die Fotos ohne nachzudenken in asoziale Netzwerke.

Die Taschen und Koffer werden erst nach dem Leeren des ersten Liters Obstler ausgepackt bzw. überhaupt im Auto belassen, Wäsche wechseln wird ohnehin überbewertet.

Einige der schon sichtlich gezeichneten Männer entzünden ein wildes Feuer im sich panisch umblickenden, weil völlig verdorrtem Tann.

Sollten die jungen Krieger wieder heimkehren, können sie sich an gegrillten Cabanossi und bunten Limonaden aus der fernen Ukraine laben, mehr gibt es vorerst nicht zu essen und trinken.

 

Spätestens um Mitternacht sind alle erwachsenen Teilnehmer sternhagelvoll, sämtliche Versuche, das sich unkontrolliert ausbreitende Lagerfeuer auszufurzen oder -rülpsen scheitern kläglich.

Das Löschen mit körperwarmen Flüssigkeiten führen letztendlich zum Erfolg, jedoch auch zu Hautirritationen und unangenehmer Hypersensibilität im Schrittbereich.

Die besonders trinkfesten Väter öffnen im Morgengrauen eine riesige, aufgeblähte Dose Gulaschsuppe aus den späten 70ern und entnehmen – in Ermangelung von Besteck – die aggressiv riechende Nahrung mit bloßen Händen.

Wie viele Kinder tatsächlich ihre Mütter je wieder sehen werden, ist ungewiss.

 

Wie es tatsächlich ist

Männer in den besten Jahren verbringen mit ihren bezaubernden Kindern wunderschöne Tage in der wilden Natur des Wechsels, alle genießen die sich ihnen bietenden Freiräume und lassen das vergangene Jahr entspannt Revue passieren.