Wir leben auf dem Land. Ich vermeide den Ausdruck „Speckgürtel“ weitestgehend, weil er mir immer ein schlechtes Gewissen ob meiner gallertartigen Körpermitte macht. Aber ich liebe das Leben auf dem Land, weil ich die Ruhe brauche, nach all den Jahren im Lärme der Großstadt. Selbst das Zusammenleben mit Insekten gleicht 25 km außerhalb des Stadtzentrums einer Chill-out-Area, bei uns sind alle tiefenentspannt.
Adrian ist - bis jetzt - ein glückliches Landkind. In jüngeren Jahren verbrachten alle Kinder den Sommer barfüßig auf der Straße, abends wurde irgendwo gegrillt und vor dem Schlafengehen wurden sie erstversorgt und grob gereinigt ins Bett gesteckt.
Mittlerweile gehen die Teenager meist getrennte Wege und treffen sich, eher zufällig, auf der Fortnite-Insel wieder.
Trotz des Klimawandels nehmen wir weiterhin alle Mahlzeiten im Freien ein. Da ich an keiner Allergie gegen Wespengift leide, teile ich mein Essen mit der Flugkundschaft kameradschaftlich und fuchtle nicht genervt herum. Auch Adrian toleriert die gelegentlichen Mitesser und achtet darauf, keinen Hautflügler versehentlich zu schlucken und leicht angedaut wieder rauswürgen zu müssen.
Wir räumen gemeinsam den Tisch ab und wie aus dem Nichts werde ich am Unterarm von einem meiner Sitznachbarn gestochen. Ich blicke erschrocken zum Tisch und beobachte rund ein Dutzend Wespen, die, von meinem Aufschrei ebenso verschreckt, von ihren Tellern zu mir hochblicken.
Ich erhebe meine Stimme und sage: „Einer unter euch wird mich verraten.“ Und sie wurden sehr betrübt und hoben an – ein jeglicher unter ihnen – und sagten zu mir: „Herr, bin ich’s?“. Ich antwortete und sprach: „Der mit der Hand mit mir in die Schüssel tauchte, der wird mich verraten.“
Die Wespen wischen sich ihre Mundwerkzeuge ab und fliegen verunsichert in den Abendhimmel. Ich kühle enttäuscht die Schwellung und versuche mein erschüttertes Weltbild zurechtzurücken.
Am nächsten Morgen schicke ich Adrian mit dem Biomüll hinaus und höre ihn kurz danach kreischen und laut fluchen. Ich stürme hinaus und beobachte, wie eine Wespe ihren Stachel dreimal in das Gesicht meines hilflosen Sohnes rammt und erst dann von ihm ablässt, als sie mich heranstürmen sieht. Wie in Zeitlupe schwirrt sie zielstrebig auf mich zu, ich weiche mit meinem Körper nahezu im rechten Winkel zurück, die Luft um mich herum scheint zu flimmern, das dunkle Brummen ihres Flügelschlags erinnert an den Rotor eines Helikopters. Als wir uns auf Augenhöhe befinden, erkenne ich, dass sie eine Sonnenbrille trägt und ich bilde mir ein, dass sie „Fuck You, Bitch!“ mit dämonisch klingender Stimme in meine Richtung intoniert.
Ich stelle ihr sofort nach und sehe sie in einer dunklen Ecke des Carports verschwinden. Offensichtlich verschanzt sie sich in einem leeren Karton. Ich hole mir einen Halogenfluter und beleuchte die Situation. Sofort mache ich einen Gewebsdefekt in der Schachtel aus und weiß, dass das wohl die Eintrittspforte sein muss. Mit einem herumliegenden Bambusstock, mit dem sowohl Würstel als auch Marshmellows gegrillt wurden dresche ich auf den Wohnkarton ein und stochere in der Öffnung herum. Der „Millwall-Roar“, der mir entgegen strömt, lässt mich als praktizierenden Westhamiter kurz innehalten.
Im gleißenden Licht erkenne ich, dass die Wespe wohl nicht alleine lebt. Die Schachtel weist mittlerweile mehrere kleinere Ausbuchtungen auf, der aufgebrachte Mob versucht, durch die Wand ins Freie zu gelangen. Vereinzelt ragen mir bereits Stachel und Kauwerkzeuge entgegen.
Leicht verunsichert ziehe ich mich ins Haus zurück und sehe ein mit Blütenstaub gespraytes „A.B.A.B“* über der Eingangstür ihrer Behausung.
Ich schließe mich ein und rufe meinen Freund von der Feuerwehr an. Einige Waspigans knallen gegen die Fensterscheibe oder beißen in die Tür. Kurz schildere ich die Situation, schätze die Größe des Baus auf einen halben Kubikmeter und vernehme ein nüchternes „Woat, bisʼs friert und zündʼs daun o.“ Nicht restlos glücklich warte ich, bis es dämmert.
Dann schleiche ich mich aus dem Haus und fahre zum Baumarkt. Dort kaufe ich fast jeden Artikel mit einem schwarzen Totenkopf auf orangem Grund oder mit diesem Piktogramm, wo man einen entlaubten Baum samt verendetem Fisch sieht. Die Flaschen aus dem versperrten Glasschrank bekäme ich nur mit einer Sondergenehmigung des BMLFUW, so ein Mitarbeiter. Dazu noch säurefeste Handschuhe, eine Atemschutzmaske, SpuSi-Outfit und eine Packung Antihistaminika gegen Pferdebremsen. Etwas anderes hätten sie hier nicht, so derselbe.
Vollgepumpt mit Adrenalin schlafe ich fast nichts. Im Morgengrauen bereite ich mich vor. Zuallererst erstelle ich eine Playlist. Ich ziehe mich - zu allem bereit - an, verlasse das Haus und positioniere Adrians Bluetooth-Box in Richtung der ungebetenen Anwohner.
Dann gehtʼs endlich los. Um mir Mut zu machen begleite ich meinen Marsch sonor mit „Out of blood and guts we grew, we’re a rough and ready crew. Sound off, 1,2, sound off, 3,4, sound off, 1,2,3,4. 1,2,3,4! I donʼt know, but Iʼve been told, a dead wasp is as good as gold!“
Währenddessen singt sich Paul McCartney warm. Ich klopfe an. Zwei Fühler und ein verschlafenes Paar Facettenaugen schauen mich an. „Hereʼs Johnny!“, höre ich mich sagen und die Wespenfratze mit einem Mike-Tyson-Gesichtstattoo verschwindet kopfschüttelnd in der Schachtel.
Ich entsichere meine Waffen, gehe ein paar Schritte zurück und warte etwa eine halbe Minute auf ihre Reaktion. Mit einem Ruck kracht der Karton vom Regal zu Boden und auseinander. Wie inszeniert schallt zeitgleich „Live and let die“ aus dem Lautsprecher und hunderte schwarz-gelbe Khmer rasen mir im Höllentempo entgegen. Ich sprühe, was das Zeug hält und verspricht – und die Wespen schmieren innerhalb von Sekundenbruchteilen leblos ab.
Zweieinhalb Minuten später ist der Spuk vorbei und ich stehe knöcheltief in Chitinpanzern. The Doors begleiten meine Aufräumarbeiten indes mit „The End“.
Vereinzelte Lebenszeichen beobachte ich unaufgeregt, nötigenfalls dosiere ich nach, man ist ja kein Unmensch. Eine Wespe scheint mir etwas sagen zu wollen. Ich beuge mich nach vorn und bemerke, dass einige blaue Streifen aufgemalt haben. „Freedom!“ entweicht ihr mit dem letzten Atemzug.
Eine halbe Stunde später entsorge ich artgerecht, werfe den Karton ins Altpapier und gehe erstmal frühstücken.
Adrian ist schon auf und schmiert sich ein Honigbrot, während ich meines mit Wurst belege. Wir setzen uns in den Garten und ich erkläre ihm den Lärm. Er gesteht, dass er gestern den Biomüll auf die Wespe geworfen und ihm die Stiche gebührt hätten.
Etwas zerknirscht ob des Massakers schiebe ich meinen Teller von mir weg. Einige Augenblicke später gesellt sich eine zitternde Wespe mit fünf Beinen und einer Sonnenbrille zu uns. Ich biete ihr mein Wurstbrot an, aber sie scheint kein Interesse daran zu haben.
„Sauer?“, frage ich hilflos und erwarte mir eigentlich keine Antwort.
„Kein Appetit!“, entfährt es ihr. „Außerdem bin ich Frutarier“, ergänzt sie.
Wir schweigen einige Minuten und ich erfahre im Lauf des Tages allerhand über Alarmpheromone, Piefke-Wespen und dass eigentlich alle Hornissen auf Met seien.
Später lese ich mir die Beipacktexte der gekauften Insektizide durch, lese etwa zwanzigmal das Wort „halluzinogen“ und schlafe ein.
Als ich erwache, liegt Bruce neben mir, wacht kurz auf, lächelt. „Gimme five“, sage ich.
„Sehr witzig, wirklich, sehr witzig“, hebt er seine Augenbraue und zwinkert mir zu.
* All Bees Are Bastards
THOMAS & ADRIAN VITZTHUM #8