Pierre Drieu la Rochelle – Der Suchende

Meine Bekanntschaft mit Pierre Drieu la Rochelle war rein zufällig. Ich recherchierte zu französischen Autoren über den Ersten Weltkrieg. Davon gibt es einige. Ich stieß auf die „Komödie von Charleroi“. Hinter diesem anfangs irreführend wirkendem Titel versteckt sich eines der stärksten Bücher, die je über den Krieg geschrieben wurden. Und unter dem Namen Pierre Drieu la Rochelle offenbarte sich der für mich faszinierendste Schriftsteller Frankreichs. Vielleicht ist er sogar mein Lieblingsschriftsteller überhaupt. Doch er bleibt ein Geheimtipp, fast nur vertraulich weiterempfohlen. Grund dafür ist eine mehr als komplizierte Biographie

 

Unter Kennern der französischen Literatur ist Pierre Drieu la Rochelle ein absoluter Geheimtipp. Grund dafür ist nicht nur die Verarbeitung seiner Kriegserfahrungen, sondern vor allem seine Romane über einzelgängerische Freigeister, die im Konflinkt mit der französischen bürgerlichen Gesellschaft der 1920/30-ger Jahre stehen. Dabei besticht Drieu auch durch eine einzigartige sprachliche Eleganz. Drieu la Rochelle ist bis heute eine Inspiration für Menschen, die es vorziehen, selbst zu denken, anstatt sich dem Mainstream zu unterwerfen. Doch Drieus Engagement gegen die bürgerliche Engstirnigkeit brachte ihn letztlich in ideologische Tiefen, aus denen er nicht mehr entkam.

 

 

 

Ein Freigeist von Anfang an

Drieu las schon im jungen Alter Nietzsche. Das war der Beginn seiner Rebellion, denn er wandte sich von der katholischen Kirche ab. Für sein damaliges Umfeld ein gewagter Schritt. Zu Beginn ein begabter Jura-Student, scheiterte er beim Abschluss-Examen der renommierten École Libre des Sciences Politiques. Die Erlösung in der dadurch entstandenen Lebenskrise fand er im Ersten Weltkrieg. Er meldete sich freiwillig. Er ging durch das Feuer Flanderns, durch die Hölle von Verdun und kämpfte auch an der Dardanellen-Front gegen die Osmanen. Auf diesen Erlebnissen beruht sein Roman „Die Komödie von Charleroi“.

 

Nach dem Krieg wurde Drieu Journalist und war offen für die neuen Trends seiner ZeitDada und Surrealismus. Drieu freundete sich mit Louis Aragon an, der ihn als einen „großartigen   Schriftsteller ohne Publikation“ bezeichnete. Unter den sich als progressiv bezeichnenden französischen Intellektuellen war der Kommunismus die vorgegebene alternativlose Grundeinstellung (ein Schelm, wer Parallälen zur heutigen Zeit zieht!). Den Kommunismus nahmen die französischen Surrealisten so ernst, dass sie selbst Salvador Dalí für eine Karikatur auf Lenin aus ihren Kreise warfen. Nachdem der damals schon bekannte Schriftsteller André Gide nach einer Reise in die Sowjetunion von den realen Umständen des dortigen Alltages berichtete, wurde er als

„imperialistischer Verräter“ gebrandmarkt. Louis Aragon förderte anfangs Drieus journalistisches Talentwie auch dessen antibürgerliche Einstellung - driftete jedoch immer weiter in die fatale Welt des Marxismus-Leninismus ab. Drieu dagegen blieb ein Zweifler. Er war ein Mann, der selber nachdachte, bevor er sich irgendeiner Idee unterordnete. Die Freundschaft zwischen Aragon und Drieu endete letztlich nicht aufgrund politischer Differenzen, sondern aufgrund einer Frau. Doch das ist nebensächlich.

 

Ein suchender Mensch

Auf der Suche nach einer politischen Heimat warf es Drieu von einem Extrem ins nächste. Mal war er Kommunist, mal stand er der monarchistischen Action Française nahe. Dabei entwickelte er mit der Zeit eine eigene Vision eines geeinten Europas. Die Frage war nur, unter welcher Flagge Europa geeint werden sollte. Leitmotiv seiner Überzeugung war stets der Kampf gegen das aus seiner Sicht dekadente Bürgertum.

Schließlich machte Drieu auch seine ersten literarischen Schritte: nach weniger bekannten Gedichtbänden veröffentlichte Drieu 1925 seinen ersten Roman „L´homme couvert des femmes“ („Der Frauenmann“). Schon in diesem Roman zeichnete sich seine antigesellschaftliche Linie ab. Einen literarischen Meilenstein setzte Drieu la Rochelle 1931 mit der Erzählung „Le feu follet“ („Das Irrlicht“). Dieser Roman sollte ihn bis auf seinen Tod hinaus verewigen. Es ist die Geschichte eines desillusionierten Mannes, der seinem Leben eine letzte Chance gibt: Einen Tag lang wandelt der frühere Lebemann Alain durch Paris und trifft alte Bekanntschaften, die mittlerweile ein ruhiges bürgerliches Dasein führen und sich ihrer Mittelmäßigkeit erfreuen. Nein, einen Sinn findet Alain in diesem Leben nicht. Er nimmt sich das Leben.

1934 veröffentlichte Drieu la Rochelle schließlich die „Komödie von Charleroi“. Dieses aus mehreren Erzählungen bestehendes Buch verarbeitet Drieus Kriegserfahrungen – von Flandern bis an die Dardanellen. Die titelgebende Erzählung ist die Geschichte eines Kriegsveteranen, dernach dem Krieg arbeitslosSekretär einer reichen Frau wird, die sich nach dem Krieg mit ihrem

„heroisch gefallenen“ Sohn gesellschaftlich profilieren möchte. Dass dieser Sohn beim Rückzug aus einem sinnlosen Gefecht völlig unheroisch in den Rücken erschossen wurde, interessiert sie nicht.

Eigentlich sollte Drieus Roman damit doch zu den Klassikern der Antikriegsprosa zählen?

 

Célines 1932 erschienene „Reise ans Ende der Nacht“ hat auch einen desillusionierten und zynischen Kriegsveteranen im Fokus, beschreibt die Kriegsereignisse aber weitaus heroischer. Céline stellt auch die deutschen Kriegsgegner in denkbar schlechtes Licht - Brandschatzende Bestien sind die Bôches! (Achtung: Vereinfachung). Im Gegensatz zu Drieus eleganten Protagonisten ist Célines Held auch kein Genitlhomme. Drieu la Rochelle verzichtete auf antideutsche Ressentiments. Er betrachtete den Ersten Weltkrieg von Anfang an als sinnlos und hegte keinerlei Hass auf den Kriegsgegner. Es ist ein Paradox, dass ausgerechnet Céline heutzutage bekannter und populärer ist als Pierre Drieu la Rochelle.

 

Zwischen Literatur und Politik

1939 erschien schließlich „Gilles“ („Die Unzulänglichen“). Mit diesem dickeren Roman wollte Drieu seinen Kritikern beweisen, literarisch zu mehr als nur zu kürzeren Novellen fähig zu sein. Der Roman gleicht einer Autobiographie: wieder kehrt ein desillusionierter Veteran aus dem Ersten Weltkrieg heim und versucht, irgendwie in der verlogenen bürgerlichen Gesellschaft zu überleben. Dabei heiratet er eine Jüdin - auch dies ist autobiographisch. Pierre Drieu la Rochelle war  tatsächlich mit einer Jüdin verheiratet, von der er sich jedoch 1925 scheiden ließ. Kritiker werfen Drieu Antisemitismus vor, dabei ist die naive jüdische Ehefrau und Tochter eines zynischen Materialisten in „Gilles“ mit Drieus Biographie zu deuten. Dass diese negativen Charaktere Juden sind, steht eigentlich nicht im Mittelpunkt. Zumindest wird es dem Leser nicht ersichtlich und es werden auch keine üblichen antisemitischen Stereotypen bedient. Wieder mache ich auf das   Paradox aufmerksam, dass der tatsächlich auch unter Linken beliebte pathologische Judenhasser Céline in unserer Zeit bekannter und populärer ist als Pierre Drieu la Rochelle.

 

Besonders im französischen Original erfährt man durch die Lektüre von Pierre Drieu la Rochelle   die Eleganz der Sprache und die inspirierende Traurigkeit des Einzelgängertumsdes eleganten Einzelgängertums, wohlgemerkt! Pierre Drieu la Rochelle erarbeitete sich den Ruf eines Dandys. Er war tadellos gekleidet und nach seiner Scheidung in Affären mit diversen Damen mit Namen und Rang verstrickt. Doch es gab auch Pierre Drieu la Rochelle als den politischen Aktivisten. Sein politischer Aktivismus führte Drieu schließlich in den Abgrund.

 

Zwischen rechts und links taumelnd (es ist allgemein bekannt, dass links und rechts einen so weiten Bogen um die Mitte machen können, dass sie sich schließlich treffen), faszinierte sich Drieu Anfang der Dreißigerjahre für den Faschismus. 1934 erschien sein Essay „Faschistischer Sozialismus“, der linken Ideen für unfähig erklärt, die Probleme Frankreichs zu lösen. 1936 trat er der Parti Populaire Françaisvon Jaques Doriot bei. Es sei nur nebenbei erwähnt, dass es sich auch bei Doriot um einen ehemaligen Kommunisten handelte. Der Ende der Zwanzigerjahre aus Italien importierte Faschismus (zu unterscheiden vom Nationalsozialismus deutscher Prägung!) brachte nunmal eine neue, erfrischende, Interpretation sozialistischer Ideen. Zumal begannen sich in der westlichen Presse Berichte über Stalins Schreckensherrschaft in der Sowjetunion zu häufen: Staatlicher Terror, Massenerschießungen und eine durch die Kollektivisierung ausgelöste Hungersnot, der Millionen Menschen zum Opfer fielenWar man damals links, musste man tatsächlich verblendet sein, um sich nicht vom Kommunismus abzuwenden (an dieser Stelle viele Grüße an Jean-Paul Sartre & Co.).

 

Pierre Drieu la Rochelle schieb Kolumnen und Essays. Unter der Flagge des Fachismus sah Drieu die Chance gekommen, seine Idee eines geeinten Europas der Vaternder verwirklichen zu können. Für Drieu war der Faschismus sozusagen eine Erneuerung seiner vormaligen sozialistischen Ideen, jedoch mit Betonung nationaler Aspekte. Es war für Drieu, der die Gesellschaft der französischen Republik ohnehin als dekadent und verdorben betrachtete, auch keine Überraschung, dass Frankreich 1940 relativ schnell von der deutschen Wehrmacht überrannt und zur Kapitulation gezwungen wurde. Drieu traf die fatale Entscheidung, mit der deutschen Besatzungsmacht zu kollaborieren.

 

Der Abgrund

Pierre Drieu la Rochelle setzte auf das nationalsozialistische Deutschland. Er stellte sich hinter die französischen Vichy-Regierung und wurde zum Chefredakteur der Nouvelle Revue Française in Paris. Es dauerte nicht lange, bis Drieu diesen Fehler einsah - denn schon bald wurden die brutalen Folgen der deutschen Besetzung Frankreichs offensichtlich. Diese Folgen beinhalteten brutale Zensur, die wirtschaftliche Ausbeutung Frankreichs, die Verfolgung politischer Gegner und die Deportation von Juden. Seine hohe Position nutzte Drieu la Rochelle dafür, einige Menschen vor der Verfolgung zu bewahren. Zu den von Drieu protegierten Menschen gehörten Drieus jüdische Ex-Frau, wie aber auch einige linke Intellektuelledarunter der spätere Moralapostel Jean-Paul Sartre.

 

Als das Deutsche Reich 1941 die Sowjetunion angriff, ahnte Drieu, dass dieser Krieg mit einer deutschen Niederlage enden würde. Er schrieb zu dieser Zeit ein Tagebuch, welches nach seinem Tod posthum veröffentlicht wurde. Pierre Drieu la Rochelle traf auf Ernst Jünger, der zur selben Zeit deutscher Besatzungsoffizier in Paris war. Es stellte sich heraus, dass Drieu la Rochelle und Jünger 1916 im selben Frontabschnitt kämpftenauf gegnerischen Seiten, versteht sich. Fast nostalgisch tauschten die beiden Veteranen ihre Erfahrungen aus ...

 

Die alliierte Landung in der Normandie 1944 trieb Drieu weiter in die Verzweiflung, denn er begriff bereits seit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, dass er auf die falsche Seite gesetzt hat.

„Das Irrlicht“ zeigt, dass sich Drieu schon früh mit dem Gedanken an einen Freitod auseinandersetzte. Dieser Gedanke spiegelt sich auch in seinem Tagebuch. Eine Verfolgung durch die Sieger ahnend, ging Drieu in die Illegalität. Die Behörden fahndeten nach ihm. Freunde und seine Geliebte versteckten ihn in ihren Pariser Wohnungen. Doch er hielt es nicht mehr aus. Am 16. März 1945 nahm sich Pierre Drieu la Rochelle das Leben.

 

Geniale Literatur und eine komplizierte Biographie

Pierre Drieu la Rochelle als Schriftsteller genial, war er doch als Mensch eine tragische Persönlichkeit. Ein Suchender, dessen Irrwege sich schließlich als fatal erwiesen. Alain, der Protagonist aus „Das Irrlicht“ ist als Drieu selbst zu begreifen: ein suchender Mensch, ein desillusionierter Mensch. Eben ein Mensch – und Menschen begehen Fehler. Die umtriebige Biographie dieses Menschen führte in der Nachkriegszeit zu großen Diskussionen. Schließlich ging es auch darum, wie man das Werk eines zweifellos großen Schriftstellers unabhängig von seiner Biographie bewerten soll.

 

1963 wurde Drieus Roman „Das Irrlicht“ verfilmt. Der schwarz-weiße Nouvelle Vague-Film, unterlegt durch die sanften Töne der Klaviermusik von Erik Satie, wurde gefeiert und gewann Preise. 2012 wurde Drieus belletristisches Werk auch in die Pléiade aufgenommen, den französischen Kulturkanon. Zugegeben führte dieser Umstand zu Debatten, doch es ist erfreulich, dass die Anerkennung eines genialen Schriftstellers letztlich gesiegt hat – und zwar über die gegenwärtige Hexenjagd auf aus heutiger Perspektive politisch unkorrekte Persönlichkeiten. Dabei ist die breite Masse der Opportunisten von damals nicht viel anders als die Masse der Opportunisten von heute. Damals wie heute ist es ein Wagnis, ein Freigeist zu seinmit allen dazugehörigen Risiken und dem menschlichen Recht auf Irrtum.